Traditionelle Chinesische Medizin
Um die Akupunktur auch nur in den gröbsten Zügen zu verstehen, müssen wir uns praktisch vollständig von den bekannten Modellen der „modernen Medizin" lösen, andernfalls wird die Akupunktur stets in mystischen, okkulten Sphären erklingen und die ihr gebührende hohen Anerkennung verlieren.
Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ist ein zusammenhängendes und unabhängiges System des Denkens und der Praxis, das über zwei Jahrtausende hinweg entwickelt wurde. Sie ist in der Philosophie und Logik, im Empfindungsvermögen und den Sitten einer Zivilisation verankert, die unserer gänzlich fremd ist und besitzt daher eine eigene Auffassung von Körper, Gesundheit und Krankheit. Analog dazu ist der völlig andere Zugang zum Menschen mit seinen Leiden. Der westliche Mediziner wird nach den Symptomen fragen und versuchen, eine präzise Einzelursache für diese spezielle Krankheit zu finden, auch wenn mehrere Teile des Körpers betroffen sind. Man spricht hier von der „kausal analytischen" Denkweise: „X verursacht Y" .Diese Grundlage des westlichen Denkens formulierte Aristoteles (384-322 v.Chr.): „Die Menschen glauben nicht, dass sie ein Ding kennen, bevor sie sein begriffen haben".
Der chinesische Arzt seinerseits kennt keine einzelnen Organe wie die westliche Medizin, und trotzdem ist er in der Lage, entsprechende Krankheiten zu behandeln. Wie tut er dies? Er richtet seine Aufmerksamkeit auf das gesamte physiologische und psychologische Individuum. Alle relevanten Informationen werden gesammelt und zu einem plastischen Bild des Kranken zusammengefügt, bis ein „Muster der Disharmonie" erkennbar wird, die ein Ungleichgewicht im Körper beschreibt. Die primäre Frage lautet somit „Wie ist die Beziehung von X zu Y?" Es besteht keine Notwendigkeit, nach einer Ursache zu suchen.
Lao Tse
Der Weg schuf die Einheit.
Einheit schuf Zweiheit.
Zweiheit schuf Dreiheit.
Dreiheit schuf die zehntausend Wesen.
Die zehntausend Wesen
tragen das dunkle Yin auf dem Rücken,
das lichte Yang in den Armen.
Der Atem des Leeren macht ihren Einklang
Diese Art Logik wird „induktiv synthetisch" genannt. Disharmonien zu beschreiben, setzt ein sich vergleichendes System voraus, das in der Lage ist, eine Veränderung in Relation zum Ganzen zu erkennen. Diese Art von Logik schuf die Yin/Yang-Theorie. Sie bildet die Basis der TCM und beruht auf der Vorstellung, dass alles auf der Welt polar ist. Die Kälte kann ohne Wärme nicht sein. Das Gleiche gilt für das Licht und die Dunkelheit , Ruhe und Bewegung, männlich und weiblich, beschützend und vernichtend oder Materie und Energie. Diese Polarität, Yin (Materie) und Yang (Energie), finden wir erstmals im „Buch der Wandlungen" (Yi Jing), das um 700 v. Chr. verfasst wurde.
Einige hundert Jahre später wurde das uns bekannte chinesische Tao-Symbol geschaffen. Die wie gebogene Tropfen aussehenden Strukturen fliessen ineinander, gehen auseinander hervor, kontrollieren sich gegenseitig und sind selbst in dem anderen enthalten. Eine ewige Wandlung ist die Folge. Wer ein Haus baut, muss „Energie" hineinstecken. Wenn es fertig ist, sieht man nichts mehr von der Aktivität, die zum Errichten des Gebäudes notwendig war, aber sie ist dort in den Mauern enthalten.
Das Universum befindet sich in einer ständigen Veränderung, Bewegung als Resultat einer inneren Dynamik, so wie die vier Jahreszeiten. Niemand würde behaupten, der Frühling wäre eine Folge des Winters. Sie fliessen vielmehr ineinander, wobei sich dieser Zyklus ewig wiederholt. Entwicklungsgeschichtlich in diesen klimatischen Veränderungen eingebettet, durchwandern analog dazu alle biologischen Organismen auch die vier Jahreszeiten: Geburt, Reife, Verfall, Tod. So entstanden vier sog. „Wandlungsphasen" (WP). Zusammen mit der Erde als der „Mitte" wurden es fünf. Sie stellen ein weiteres Grundprinzip der TCM dar (vgl. Tabelle nächste Seite). der Körper als Abbild der Beschaffenheit der Natur.
Diese vergleichende Beziehung zur Natur führte auch dazu, Krankheiten als Wechselwirkungen des Menschen mit klimatischen Einflüssen zu sehen: stürmisches Wetter als Quelle der Disharmonie. Diese „bösartigen Einflüsse" sind deren sechs: Wind, Kälte, Feuer, Hitze, Feuchtigkeit, Trockenheit und Sommerhitze.
Der Körper ist aber nur für die schädigende Wirkung dieser natürlichen Ereignisse empfindlich, wenn das Yin und Yang nicht im Gleichgewicht oder geschwächt sind. Dann erst dringt bspw. Wind in den Organismus ein (zuerst in die Oberfläche, später kann er durch eine falsche oder ausbleibende Therapie in die Tiefe vordringen) und ruft eine Winderkrankung hervor (Beachte: die Störung ist Wind und die Krankheit ist Wind, Ursache = Wirkung!). In der westlichen Sprache wäre dies bspw. Rheuma (nach Durchzug!), aber auch Infektionskrankheiten, da Keime durch den Wind verschleppt werden. Sogar Unfälle sind Windphänomene, da sie auch auf Bewegung beruhen. Die TCM arbeitet mit einer Fülle von Entsprechungen, somit wird der Wind auch mit dem Frühling assoziiert, wo er am meisten vorkommt. Da sie Bewegung verkörpert und unsere Muskulatur ebenfalls für unsere Bewegung verantwortlich ist, gehört die Muskulatur auch zum Frühling oder Wandlungsphase „Holz", denn dann ist die Zeit, in der die Natur zu wachsen beginnt (Bewegung!). Zu der gleichen Wandlungsphase gehört die Charaktereigenschaft des Cholerikers, der aufbrausen und quasi um sich schlagen kann. Und wie in unserem Sprachgebrauch behauptet wird „ihm ist eine Laus über die Leber gekrochen", so gehört die Leber ebenfalls zu dieser Wandlungsphase. Entsprechend ist sie auch am empfindlichsten für Windeinflüsse (gleiche Wandlungsphase). Ähnliche Überlegungen lassen sich mit allen anderen WP anstellen.
Holz | Feuer | Erde | Metall | Wasser | |
Jahreszeit | Frühling | Sommer | Spätsommer | Herbst | Winter |
Yin-Organ | Leber | Herz | Milz | Lunge | Niere |
Yang-Organ | Galle | Dünndarm | Magen | Dickdarm | Blase |
Klima | windig | heiss | feucht | trocken | kalt |
Emotio | Wut | Freude | Sorgen | Trauer | Angst |
Geschmack | sauer | bitter | süss | scharf | salzig |
Sinnesorgan | Auge | Zunge | Mund | Nase | Ohren |
Gewebe | Muskeln | Blutgefässe | Bindegewebe | Haut | Knochen |
Farbe | grün | rot | gelb | weiss | schwarz |
Richtung | Osten | Süden | Mitte | Westen | Norden |
Die WP bestehen aus einem äusseren und einem inneren Energiesystem, die miteinander verbunden sind. Für uns therapeutisch wichtig ist das äussere System, das sich aus den uns bekannten Akupunktur-Meridianen aufbaut. Diese Leitbahnen sind Linien, die durch die gedankliche Verbindung der Akupunkturpunkte (AP) entstehen. Die Leitbahnen stellen Kanäle dar, in denen die Energie („Qi", ausgesprochen tschi) und das Blut („Xue", ausgespr. siöö) befördert werden und sind keineswegs mit der westlichen Vorstellung der Blutgefässe vergleichbar. So lässt sich durch die Manipulation dieser Punkte (durch Nadelung, Moxibustion (Erwärmung), oder Akupressur, Laser-Punktur usw.) das Qi und Xue direkt beeinflussen. Die AP haben auch individuelle Beziehungen zu den Wandlungsphasen und somit auch zu den Organen und weisen unterschiedliche Qualitäten auf, wie verteilend, sammelnd, dämpfend, stimulierend, usw. Die Kunst der Körper-Akupunktur (KAP) ist für jede Disharmonie (für uns Krankheit) eine Strategie mit dieser Fülle von AP zu entwickeln und sie wie Schachfiguren zum Wohle unserer Gesundheit einzusetzen. Jedoch genau wie ein Schachspieler seinem Feind unterliegen kann, muss die Akupunktur nicht auf Anhieb greifen. Unter Umständen ist eine andere Strategie erforderlich. Somit ist es voreilig, nach erfolglosen Akupunktursitzungen die Akupunktur an sich in Frage zu stellen, genau so wie wir kaum an der Antibiotikatherapie zweifeln würden, wenn sie einmal nicht helfen sollte.
Wie kann der Körper für die o.e. bösartigen Einflüsse empfänglich werden? Die Hauptursachen sind unausgewogene Emotionen, falsche Ernährung, sexuelle Ausschweifungen, physische Überbelastungen und „falsche Therapien". Diese Faktoren sollten primär angegangen werden, bevor es zum Ausbruch einer Krankheit kommt. Nei Jing sagt auf poetischer Weise:
„Medizin nach Beginn einer Krankheit anzuwenden,..… das ist, als grabe man einen Brunnen erst, nachdem man durstig geworden ist, oder schmiede Waffen erst, wenn die Schlacht bereits begonnen hat."
Hier geht es immer um Balance, Rhythmus und Harmonie. Die Nahrung sollte ausgewogen zubereitet und gegessen werden: Grünes Blattgemüse (eine Yin Substanz) wird mit Ingwer (einer Yangsubstanz) gekocht. Spezielle Körperübungen (T'ai-Chi) fördern rhythmische und kontrollierte Bewegung.
Die Diagnostik in der TCM stützt sich auf 4 Pfeilern: Beobachten, Befragen, Betasten, Hören und Riechen, wobei die ersten drei die wichtigsten sind. Zuvorderst stehen die Puls- und die Zungendiagnose, wo die energetischen Abläufe sicht- und tastbar werden. Ziel und Kunst der Untersuchung ist es, schlussendlich den Menschen als lebendiges Gemälde zu erfassen und zu interpretieren, ähnlich dem Werk eines Kunstkritikers, um daraus die individuelle Therapie herzuleiten.
Eine Akupunkturtherapie besteht in der Regel aus ca 10 Sitzungen von bis zu 30 Minuten Dauer. Es werden ausschliesslich Einwegnadeln verwendet, um eine Übertragung von Krankheiten zu verunmöglichen. Der Erfolg der Behandlung ist nicht von der Anzahl der gesteckten Nadeln abhängig. Nach dem Obengesagten muss der Patient jedoch aufgefordert werden, alle Veränderungen und Reaktionen dem Arzt zu melden, damit die Therapie evtl. der neuen Situation angepasst werden kann. Als „Nebenwirkung" kann einmal ein Blutgefäss angestochen werden, was einen kleinen Bluterguss zur Folge haben kann, ist aber völlig ungefährlich.
Wie die Ernährung als Heilmittel betrachtet wird, ist die Chinesische Kräuterkunde für die TCM fast noch wichtiger als die Akupunktur, denn durch letztere lässt sich lediglich die vorhandene Energie umleiten und ausleiten, jedoch keine zuliefern. Dazu spielt sich die KAP an der Körperoberfläche ab, die Heilkräuter dringen durch die Einverleibung direkt in die Tiefe vor. Sie haben auch verschiedene Temperatur-Qualitäten (heiss, warm, neutral, kühl, kalt), Geschmacksqualitäten (bitter, süss, scharf, salzig, sauer, fad) und Bezüge zu den Wandlungsphasen. Somit lässt sich gezielt eine Kombination von Wirkungen durch eine entsprechende Zusammensetzung erreichen. Pfefferminztee kühlt den Körper, auch wenn er heiss getrunken wird! Gleichzeitig hat er Bezug zur WP Metall oder zur Lunge. Bei also zu viel „Hitze in der Lunge" (Bronchitis mit eitrigem Auswurf) können wir damit diese Disharmonie erfolgreich abkühlen und die Genesung unterstützen.